Robert Habeck ist nicht nur Kanzlerkandidat-Kandidat der Grünen, sondern auch zurück auf X, diesem gesellschaftlichen Netzwerk, bei dem die journalistische Sorgfalt das Suffix „ehemals Twitter“ verlangt. Ich weiß nur nicht so richtig, was er da will; also auf X, ehemals Twitter, nicht im Kanzleramt.
Ich war viele Jahre auf Twitter aktiv, mal mehr, mal weniger, mal gar nicht, ich habe dort viele Freunde kennengelernt und wie es die Gepflogenheiten eines spätzündenden Software-Entwicklers verlangen, meine erste Freundin. In einem erneuten Anflug von überschätzten Sendungsbewusstsein zwitscherte ich ab 2016 nach etwas längerer Twitter-Abstinenz meine Meinungen zum politischen Tagesgeschehen in die Welt, die ich in der damaligen, doch mitunter recht unterkomplexen, stark verengten, womöglich sogar ins populistische reichenden Perspektive heute nicht mehr wiederholen möchte, was aber auch egal ist, weil’s schon damals niemanden interessiert hat — ich hatte knapp über tausend Follower und vermochte diese Zahl auch nie zu steigern.
Aber ich fühlte mich durchaus wohl, verbrachte viel Zeit dort, sicherlich auch zu viel Zeit. Wenn etwas in der Welt passierte, es „eine Lage“ gab, wie man im Journalistendeutsch sagt, verwandelte sich Twitter in eine Echtzeit-Quelle, wenn auch nicht immer ganz zuverlässig, doch immer aktuell.
Wie es aber auch im echten Leben so ist, irgendwann kommt jemand, kauft die ganze Hütte, reist ein paar Wände ein, um alles umzubauen, vielleicht auch ein paar tragende, und marschiert dann mit einem Waschbecken herum, let that sink in, was wohl insbesondere dann ganz schön witzig ist, wenn einem als milliardenschweren Eigentümer sowieso alles egal sein kann. Tiere sind künftig nicht mehr erlaubt, Vogel und Failwal müssen raus, Gentrifizierung kann nunmal nicht für alle schön sein.
2019 zog sich Habeck aus den gesellschaftlichen Netzwerken Twitter und Facebook zurück, er wollte sich nicht mehr täglich als „grüner Nazi“ beschimpfen lassen, „der aufgehängt gehört“. Nun ist er zurück, denn „Orte wie diesen den Schreihälsen und Populisten zu überlassen ist leicht“.
Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist.
Dorthin, wo es richtig weh tut
Bekanntlich bin ich ein großer Freund davon, immer dorthin zu gehen, wo es so richtig weh tut, gerade im Wahlkampf, gerade draußen in der Realität. Als Demokraten müssen wir auch dort präsent sein, wo wir nicht mit tosendem Applaus und Sonnenblumen begrüßt werden, sondern auch dort, wo wir erstmal eine blutige Nase holen.
Sicher: Auf X tut es ganz besonders weh, insofern ist Habecks Präsenz ganz nachvollziehbar. Aber was will er dort erreichen, wo es ganz besonders wehtut, nicht erst seit Elon Musk ebenjene Hütte vor zwei Jahren gekauft hat und auf links rechts gedreht hat von einem netten Ort zum Austausch zu einem ziemlichen Moloch, durchsetzt von Bots, bis zum Bersten gefüllt mit Lügen und Hass und Desinformation?
Ich vermute auf X nicht das Publikum, dem in den letzten Jahrzehnten kein brauchbares politisches Angebot gemacht wurde, die man erreichen muss, mit denen man ins Gespräch kommen muss. Vielleicht treiben sich dort noch vereinzelt ein paar Journalisten herum, aber wenn die keine anderen Informationsquellen finden sollten, dann weiß ich auch nicht weiter.
Gewinnen kann im deutschsprachigen Teil dieses Netzwerks allein die AfD, die in den letzten Jahren in Ermangelung ernsthafter Konkurrenz mit nennenswerter Social-Media-Kompetenz die Klaviatur der algorithmusgesteuerten Lügenmaschine perfekt bespielen kann. Gegen dieses Crescendo demokratiefeindlicher Desinformation verhallen Erklärbär-Roberts Monologe ungehört. Sicherlich ist es ganz anständig, wenn die Kapelle bis zum Ende spielt, nur hat niemand etwas gewonnen, verlässt sie nicht rechtzeitig die sinkende Titanic.
Machen wir uns nichts vor: Für demokratisch orientierte Parteien ist X verloren.
Abschied nehmen
Meinen letzten Tweet schrieb ich irgendwann im April 2022, nachdem Elons Kaufabsichten ernsthafter wurden, weil ich nicht Teil der Verhandlungsmasse sein wollte, und weil ich schon damals der Meinung war, es gäbe in Zeiten des russischen Überfalls auf die Ukraine wichtigere Probleme als die falsche Wagenreihung im morgendlichen Kampf mit der Bahn auf dem Weg zur Arbeit, über die ich mich damals in Ermangelung echter Sorgen gerne aufregte.
Hin und wieder surfte ich noch mal vorbei an diesem Ort, der ehemals Twitter hieß und war, wenn in den einschlägigen Nachrichtenseiten Tweets eingebettet wurden, ging aber nicht rein, weil’s schon in der Nähe zu sehr stank nach Hass und Lügen und ging traurig weiter, wohlwissend, dass es auch in diesem dunklen Ort noch immer lustige Ecken gab, in denen sich meine Freunde von früher aufhielten, quasi im ruhigen Auge des Shitstorms.
Kein Bier für Elon Musk
X ist mittlerweile das Werkzeug des reichsten und womöglich mächtigsten Mannes der Welt, in der er, ausgestattet mit der Wunderwaffe der algorithmischen Verstärkung, seine häufig nicht so ganz der Wahrheit verhafteten Botschaften in die Welt sendet (manchmal auch morgens um halb drei, wenn die eigenen Tweets nicht wie erwartet performen) und in der Vergangenheit nicht nur als Wahlkämpfer für Donald Trump begeistert wie ein kleines Kind in die Luft hüpfte, sondern offenbar einen höheren Posten in der zukünftigen, vermutlich komplett freidrehenden US-Bundesregierung anstrebt.
Ich teile Habecks Meinung, man könne es sich nicht leicht machen, das kann nie die Lösung sein, nicht heute, nicht in dieser Woche, nicht in dieser Zeit. Aber warum dann gerade wieder auf X? Wozu auf dessen Plattform Hof halten? Der einzige, der davon profitiert, wenn wohl auch nicht finanziell, ist Musk, dessen Sprachrohr wir damit legitimieren.
Künftig könnten Trump und Musk, die beiden mächtigsten Männer der Welt, auf allerlei lustige Ideen kommen. Shady Vance grübelt bereits laut darüber, ob man die NATO-Unterstützung für EU-Staaten eventuell daran koppeln könnte, was sich die Europäische Union an schönen Regulierungen für X ausdenkt, während Musk flegelnd in den anstehenden Bundestagswahlkampf eingreift und sowohl die deutsche Automobilindustrie als auch die europäische Raumfahrtindustrie zerstören möchte. Soll ich ernsthaft glauben, der deutsche Vizekanzler könnte dort tatsächlich mehr erreichen als eine Überlastung der deutschen Strafverfolgungsbehörden, die den ganzen Rotz rechtlich einordnen müssen?
Selbst in diesen düsteren Zeiten gibt es viele schöne Orte im Internet, in denen ein grüner Kanzlerkandidat ein dankbares Publikum findet. Habeck ist schon auf Threads aktiv, bei Instagram, aber warum nicht auch auf Bluesky und im dezentralen, dem demokratischen Gedanken über alles verhafteten Fediverse?
Habeck erzählte mal bei einer Wahlkampfveranstaltung, seine alte WG in Freiburg habe ihn eingeladen, ob er sich nicht mal seine alte Bude wieder ansehen wollte. Er kam mit einem Kasten Bier vorbei, man quatschte je nach Quelle eine ganze Weile oder sogar die ganze Nacht.
Ich glaube nicht, dass auf X jemand mit ihm ein Bier trinken möchte.
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